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erwe- verlag

Rudy Weiler

Verlag für Ariane

Selbstverlag

Verlag für AutorInnen

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BLOG RUDOLF WEILER 

2010-2020/21

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

NESTPUTZER 2019

 

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Littérature française

 

Régis Jauffret: Skandallitterateur und „Psycho-Dramatiker“

 

In Frankreich ist nicht nur die Politik in Aufruhr. Auch in der Literaturszene tut sich vieles. Neben Michel Houellebeq und Patrick Modiano hat sich seit langem Régis Jauffret als sehr begabter Romancier in Stellung gebracht und mehr als beide publiziert: gegen dreissig Prosawerke. Drei Romane bewegen sich in etwas zu grosser Nähe beim Sensations-Journalismus: Die Kriminalfälle Edouard Stein, Jakob Fritzl und Dominique Strauss Kahn sind skandalumwittert und vielleicht hat der Autor da über das Ziel hinausgeschossen.

 

Kannibalen: „Delikatessen“?

 

Die französische Literatur hat eine endlose Reihe von Dreiecks-(Liebes)geschichten hervorgebracht. Die Cannibales (Seuil, 2016) sind das auch, es ist aber ein Dreieck von einer ganz ander-en Art. In geradezu meisterhafter Weise beschreibt Jauffret eine Hassliebe, eine aufgelöste Ehe und den Wunsch, den verhassten Ehemann zu erledigen, ja sogar zu kochen und zu verspeisen. Noemie und Jeanne leben getrennt, Letztere sucht sich Geoffroys Mutter Jeanne als Komplizin. im Komplott, den Gatten zu beseitigen. Das kommt als Briefroman daher, in einer stilistisch absolut perfekten, sarkastischen, ironisch übertrieben höflichen Sprache. In Frankreich gab es eine TV-Serie, die „Delikatessen“ hiess, wo das Schlachten von Menschen spätabends als humoreske und bizarre Unterhaltung präsentiert wurde. Es gibt dann auch die Filme „Delikatessen“ (1991) und den antropophagen Horror-Film Ma loute/Der Lümmel (2016) von B. Dumont und mit Juliette Binoche. Bei Jauffret entsteht der Horror aus der Banalität und Alltäglichkeit von Gleichgültigkeit, Angst, Egoismus, Verzweiflung und Dummheit. 

 

Microfictions

 

Jauffret hat schon 2008 eine Sammlung von Mikrotexten als Roman veröffentlicht und tut dies 2018 erneut. Und wie! Tausend Seiten Text, es sind 500 (!) kurze, eineinhalbseitige Flashes. Die Frage, ob dies als Roman bezeichnet werden muss, bleibt offen. Die Erzählerin, der Erzähler sind in jedem Text andere. Sie geben Einblick in eine Lebenssituation, die berührend, 

 fantastisch, schockierend oder Angst einflössend ist. Die Titel sind alphabetisch geordnet, jeder Buchstabe wird bedient. Fast könnte man sagen, diese Kurz-Kurzgeschichten sind eine lange Reihe von Abgründen, sowohl im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich geht oft nichts mehr, ist alles kaputt. Da gibt es die allein erziehende Mutter, aber auch den Vater, hoffnungslose Situationen für Kinder, die gnadenlos bestraft, eingesperrt, geschlagen oder gar ermordet werden. Wir finden Dramen von Kindern, Heranwachsenden, Müttern und Elternpaaren. Das Ende von Beziehungen, die materiellen Probleme als Folge einer Scheidung, Mordgedanken und ausgeführte Mordprojekte, eine Ent-Mannung, die schlimmen Auswirkungen von sozialen Medien und Telefonie, die Situation von schlecht Verdienenden, Leute, die im grössten Luxus leben, die schrecklichen Lebensumstände im Alter, Tod und Absurdität des Lebens. Pornografie ist sowohl als Konsumgut als auch für Erpressung von anderen gut, sexuelle Handlungen sind entweder langweilig (in einer lange dauernden Ehe), sie sind die Krönung des Seitensprungs, gekaufte oder erpresste Dienstleistungen, Auto-Erotik oder himmlische Verzückung. Da gibts den Herzspezialisten, der eine Sechzehnjährige unter Zwang heiratet, ihrer allein erziehenden Mutter dafür eine Arbeitsstelle im Spital verschafft, die falschen Hochzeitszeugen mit €200 kauft und seine droits d’époux reklamiert. Jede „Microfiction“ ist ein rhetorischer Kraftakt ohne Einleitung, mit einer Entwicklung und einem überraschenden Ende.

 

26.1.2019

 


 

 Diäten oder Fasten? Beides!

 

Weil der Mensch in kürzester Zeit ein paar Kilo zunehmen kann, gilt es Gegenmassnahmen zu ergreifen, ansonsten eine neue Garderobe angeschafft werden muss. Was schon wieder ein Text über Diäten? Gähn! Trotzdem, ich versuch’s mal anders. In meiner Notsituation ist es nicht mit KdH oder IdH, koche und iss die Hälfte getan. Das scheitert immer wieder an den Mahl- zeiten, die meine liebevoll besorgte Gattin täglich in Bio-Qualität und mit gleichbleibender hoher Bio-Qualität bereitstellt. Aus der Hälfte werden so rasch drei Viertel oder eine Mahlzeit für eine vierköpfige Familie Da Resten essen irgendwie aus der Mode gekommen ist und da  man in dieser Hinsicht völlig falsch erzogen wurde, werden keine Resten produziert und statt einer Hälfte beide konsumiert. Aber FdH müssten wir eigentlich bei uns sowieso lebenslänglich durchziehen! 

Durch Leidensdruck kreativ geworden, fiel mir neulich eine einfach zu handhabende Diät ein. Ich nenne sie 3tsch-Diät: No cheese, no chocolate, no cheers! Chips und Fastfood liegen sowieso nie drin! Jedoch nichts Pflanzliches muss weggelassen werden! Konsequent angewendet, kann dies bereits zu einer Gewichtsreduzierung führen. Bananen sind umstritten. Das Copyright für diese Idee bleibt beim Autor!

Schon oft gehört und jetzt seit einiger Zeit nun auch im Versuchsstadium: Intervallfasten. Pro Tag 18 Stunden fasten (Langschläfer haben es da besser) und während 8 Stunden ist Essen mit Mass erlaubt, aber natürlich keine Exzesse. Empfehlung des Gesundheitsamtes: viel Ungesüsstes trinken. Was also, Frühstück UND Mittagessen auslassen? Wie schafft man das? Am Morgen ein Glas Wasser mit etwaigen Medikamenten eingenommen ist ein ganz kleiner Ersatz für heisse Schokolade, Kaffee oder Tee. Wobei letztere doch gehen, einfach ohne Milch, Zucker, Aspartam oder Stevia, also partout nicht süss.                                                                                                                                   

Mit Nostalgie denke ich an frühere Zeiten, wo Marathontraining jegliche Diät nutzlos erschienen liess. Und unter den guten Vorsätzen für 2019 findet sich da bei mir der fromme Wunsch,  das Waldlaufen, Joggen oder Rennen wieder aufzunehmen.

 

23.1.2019

 


 

 Alex Sadkowsky malt Frauenbildnisse

 

Alex Sadkowsky ist seit 1969 Schweizer/Zürcher. Er ist Familienvater, Maler und Autor. Als Global Artist malte und malt er wunderbare Frauenporträts, europäische, amerikanische, afrikanische und asiatische Schönheiten. Schönheit ist das Grundthema in seinem Werk; daneben gibt es aber auch Humor, Kritisches, Philosophisches und Absurdes. Viele seiner Frauenfiguren haben das dritte Auge, sind also weiser als manche Männer… Als Feminist und Fetischist, ist ihm wenig Weibliches fremd. Die chinesische Wespe ist wahrscheinlich der längste Schweizer Roman (mit 1902 Seiten mehr als doppelt so lang wie Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, 806 Seiten) und das dreibändige Monsterwerk nennt sich „Liebesgeschichte“. Liebe ist Sadkowskys Betriebsstoff, Antriebsmittel, Belohnung und Ausdruck seiner Lebensfreude.

 

Frauenleben: Feminist und Fetischist

 

In seiner Sammlung Frauenleben I (Erstes Quartal 1986) zeichnet der Porträtist mit überschäumender Schaffenslust die für mich (be)rührendsten Frauenporträts der Schweizer Kunst. Mit einer Kreativität, die fast biblisch zu nennen wäre, kreiert er Evas aus seiner eigenen Rippe, Menschen, die zuerst eben dies sind und erst dann Frau oder Mann. Krieg und Frieden und Frieden und Krieg sind zwei Bilder der selben Frau. Beides sind Zustände von beiden Geschlechtern. Etwa ein Dutzend Bilder tragen den Titel „Emanzipation“, fast alle mit Hosen und vielen Attributen und Symbolen bestückt. 

Natürlich gibt es Rollen, die Frauen im Leben einnehmen, die wir hier wieder finden: Maya, die Ethnologin, Die schöne Philosophin („mit dem Hammer philosophieren“?, Nietzsche), Weinende Architektin, Psychologin, Die Poetin, Die Schwimmerin (später, auch nach 2000 wiederholt gemalt), Mütter und ihre Kinder, auch eine siebenfache Mutter, Triumphierende Frau, schwangere und nichtschwangere Fischerinnen, Die schöne Walliserin I und II beide Male mit Skifahrer, der die Haare hinunter schiesst, Frau vor dem Spiegel und Frau mit Windrädchen und gelocktem Haar, Telefonistin Eva (Telefonat mit Adam), Singende Patria, Helvetia, Tänzerin, Erwachende Braut und Braut des Rennfahrers, Lola (Profil), Einseitig explodierender Frauenkopf (Migräne!?!) Es fehlen aber auch nicht ein Mädchen vom Lande, die Nonna con figlio und drei (!) Soldatinnen zum Schluss. Natürlich gibt es da auch Abbildungen des traditionellen Rollenverständnisses: Sklavin der Küche, Tagebuch einer Hausfrau und kahle Hausfrau. Schmerz, als den Frauen nur allzu bekanntes Problem, fehlt in dieser Sammlung von Traumbildern nicht: Genagelte (mit Nägeln im Kopf), Macho (Frau penetrierend), Nummerierte Tränen, Soldateska (schmerzverkrümmt).

Der Fetischist sammelt bevorzugte Kleidungsstücke und Sinneseindrücke: Frauenbeindenkmal, Augenwimpern und serienmässig dargestellt: Womenslips I - V  (s. www.sadkowsky.ch).

Bei der letzten grösseren Ausstellung im Helmhaus 2014 hing da—wie könnte es anders sein—ein Frauenkopf, Titel: „Gruss aus Afrika“. Ein Kopf, der die ganze Schönheit des afrikanischen Kontinents enthält, mit einer Aura, wie man sie nicht alle Tage sieht. Fast würde man meinen, der Künstler habe eine Persona von sich selbst, transgender und fast selfiemässig so dargestellt, dass wir lesen könnten: I love myself, my exotic selves and femininity. Man beachte die fast parallele Schieflage der Köpfe.

 

Painter, Poet und Prosaist

 

Der Maler Sadkowsky ist auch Poet und Prosaautor. Und sein Gesamt(kunst)werk umfasst neben Bildern auch Texte. Das mag erstaunen. Kann einer beides professionell betreiben? Sadkowsky kann. Ist das nicht wahnsinnig viel Arbeit? Doch, ist es, es bedingt stetiges künstlerisches Schaffen. Kreativität als Normalzustand. Hier zum Beweis:

  Die Braut (2010)

  Das Brot ist auseinander gefallen                                                                          heute morgen um acht                                                                                      bewusstlos liegt die schöne Bäckerin                                                                    unter der Ofentür                                                                                                        ihr Geliebter hebt sie auf                                                                                            da lächelt sie ihm an die mehligen Lippen                                                        Irrtum haucht sie                                                                                                        ich bin das Brot                                                                                                            das passt in unser Geschick                                                                                      iss mich heirate mich                                                                                              bitte lass es geschehen                                                                                            jetzt im Fusskehrum

  4.1.2019

 


 

Arbeitsbeschaffung

 

In der heutigen Zeit ist es doch so, dass ein etwa gleich grosser Kuchen von Arbeitspensen auf eine wachsende Zahl von Arbeitenden zu verteilen ist. Daher müssen diese zur Arbeit Sorge tragen, sie nicht vergeuden. Sie sollten diese nicht unüberlegt, verfrüht oder überstürzt angehen und auf keinen Fall Uebereifer oder Eile an den Tag legen. Geht etwas schief, dann wird das sehr teuer!
Die laufende Roboterisierung vernichtet selbstverständlich traditionelle Arbeitsplätze und schafft neue nur in kleiner Zahl. Outsourcing und Verlegung von Arbeitsplätzen in den Osten führt ebenso zu Schrumpfprozessen beim Arbeitsvolumen, das ist unbestreitbar. Bauarbeitende können nicht den ganzen Tag beaufsichtigt werden. Für sie gibt es die Möglichkeit, sich Nischen zu schaffen, in denen sie stundenlang mit dem Handy „arbeiten“ können. Auch das Potential des Meditierens auf Baustellen ist noch nicht genügend ausgeschöpft worden, es soll sehr gesund sein, gesünder jedenfalls als das Malochen 8 Stunden pro Tag. Pausen machen und Austreten ist eine Kunst geworden, bei der alles relativ wird. Letzten Sommer hatten wir in der Nachbarschaft eine Gruppe von Südländern, die das extrem laute Sprechen vor oder ohne Publikum übten, stundenlang! Vor allem im öffentlichen Bereich (Strassen-, Bahnunterhalt und Tiefbau) beobachtet man ein neues Phänomen: Das Arbeiten in Rudeln mit Anführer, aber ohne Ausführer! Ein halbes Dutzend mit Arbeitsanzügen in grellen Farben kümmert sich um ein überschaubares Stückchen Arbeit, einer tut so, wie wenn er arbeiten würde, die anderen schauen zu, diskutieren Arbeitsabläufe und einer sichert, ob nicht etwa ein Chef auftauche. Diese befinden sich aber meist auf Geschäftsreisen oder in endlosen Sitzungen.
Aeusserst bedenklich scheint mir die Arbeitsbeschaffung im Gesundheits-wesen (früher Krankenpflege). Gesundheit herzustellen ist viel schwieriger, arbeitsintensiver, teurer und zeitraubender als die Krankheit zu behandeln. Eine leicht steigende Zahl Krankender steht einer wachsenden Masse von Aerztinnen und Aerzten zur Verfügung. Placebo- und Pseudobehandlungen schädigen die Patienten nicht, schon etwas mehr die Versicherungen. Wenn dich aber ein Arzt krank schreiben will, obwohl du es nicht bist, dann schafft das so Arbeit für deine Stellvertretenden und das Gesundheitspersonal. Künstlerinnen und Künstler haben oft ein übersteigertes Arbeitsverhalten.
Es gibt welche, die machen nichts anderes mehr. Sie wollen nichts delegieren, lassen sich nicht kontrollieren, wie kann man so existieren?
Die Arbeitsbeschaffung erfolgt im künstlerischen Bereich sozusagen automatisch, je mehr, desto besser, nur entwickelt sich der Erfolg leider nicht immer parallel dazu.
Arbeit beschaffen ist bereits Kunst in einem Umfeld, wo die Preise für die Ausführung von Tätigkeiten ins Uferlose steigt. Man sage nun nicht, die Politik sei keine Arbeit, sie schafft neue Arbeitsplätze in grosser Zahl: Idealzustand ist der Beamte, der es schafft, acht Bürostunden kreativ zu verbringen ohne anderen die Arbeit zu entwenden.

26.12.2018

 


 

Wilhelm Genazino: Humoristiker aus Leidenschaft:

Am 14.12. 2018 erreicht uns die Nachricht vom Ableben eines grossen deutschen Autors: Wilhelm Genazino hat 22 Prosa-Veröffentlichungen auf seinem Konto und fast gleich viele Preise dafür bekommen. Er hat seinen ganz eigenen Ton gefunden: Der "Genazino-Sound" ist unnachahmlich und in einer ganzen Anzahl von Romanen zu vernehmen.

Es sind fast alles innere Monologe, welche den Text ausmachen.
Genazino lesen heisst einen der ra
ffiniertesten und humorvollsten Erzähler der deutschen Literatur kennen lernen. Seine Figuren sind virtuose Tänzer zwischen Distanz und Nähe, sie fallen auf durch manchmal (gespielte?) Distanzlosigkeit und krudes Zur-Schau-Stellen von Intimitäten im Umgang mit Frauen und Freundinnen und sie nehmen kein Blatt vor den Mund. Es handelt sich im Wesentlichen um eine „Phänomenologie des Alltags“. Genazinos Roman-(anti)Helden wirken auf eigenartige Weise vertrottelt, etwas heruntergekommen, fast schon randständig, es sind alles „gescheiterte Existenzen“. Die Protagonisten der Romane sind Antihelden, die sich in ähnlichen Lebenssituationen befinden und über ihr Dasein nachdenken, räsonieren, spekulieren und philosophieren. Die Fähigkeit der genazinoschen Romanhelden, ihr absolut belangloses Leben, geprägt durch Antriebs- losigkeit, mit Beobachtungen aller Art, Erinnerungen und philosophischen Überlegungen zu füllen, gleicht an manchen Stellen der Tätigkeit des Autors, der einen Roman mit fiktivem Leben „ausstatten“ will/muss: mit Beobachtungen von Tieren, Menschen und unbelebten Dingen, was oft über eine Leere hinwegtäuschen kann. „Alles, was wir über die Zeit anschauen, beginnt eines Tages in uns zu sprechen.“(Der gedehnte Blick 2007)
Wir können die Protagonisten von Genazinos Romanen nicht Flaneure nennen, dazu fehlt ihnen die Gelassenheit, die Absichtslosigkeit ihres Tuns, die Eleganz der Kleidung. Aber das Herumtreiben, das Herumlungern, das Herumstreunen, Herumwandern, Umher- schlendern, „Herumstromern, Zeitverplempern und Rumgaffen“—er nennt es hier auch „hundeartiges Umherschweifen“— hat Methode. Es erlaubt den Erzählern ihre Gedanken zu sammeln, zu ordnen, über sie nachzudenken, zu philosophieren, Dinge zu antizipieren, zu erinnern, zu bewältigen. Genazinos Erzähler kreiert dann Neologismen wie „Erlebniswiederaufbereitungsmaschine oder „Lebenstatsachenverarbeitungsmaschine“ und freut sich an deren Länge und Wohlklang.
Der oft und gerne über den Alltag philosophierende Autor erfindet für seine Protagonisten oft Pseudo-Berufsbezeichnungen, solche, die es gar nicht gibt, es sind Existenzlügen, Verballhornungen der Lesenden, eigentliche Witzkreationen: Allen ist gemeinsam,
dass sie meist stadtbeobachtende Chronisten des Alltags sind: Zeitpunktforscher, Leidbeobachter, beschäftigungsloser Schauspieler, Sofortanalytiker, Enttäuschungspraktiker ( in
Kassiererinnen, 1998).

Komik, Satire, Witz

Genazino hat in seiner Abhandlung Über das Komische: der aussengeleitete Humor (1998) für sich eine Komiktheorie entwickelt, die er dann in seinen Romanen konsequent anwendet und weiterentwickelt:
„Das Komische ist die nicht entdeckte, aber stets auf einen Entdecker wartende Lächerlichkeit, an der der Entdecker selbst teilhat. Die innere Tätigkeit, die zu solchen Entdeckungen führt, darf äussere Realität verdrehen und umdichten, ohne dass der Autor dieser Veränderung je fürchten müsste, seine Weltverunstaltung rechtfertigen oder gar verantworten zu müssen. Wer Komik empfindet, hat keine andere, bessere (weil moralischere) Wahrheit zur Hand (wie der Humorist und der Satiriker), sondern er belässt es dabei, die vorhandene Welt privat zu deformieren. Komik will nirgendwo „eingreifen“. Wer Komik schätzt, ist oft auch ein geheimer Kompagnon versteckter Mängel und Fehler, die die komische Tätigkeit erst in Gang bringen.“ Was auch als „Komik der Beiläufigkeit“ bezeichnet wurde, weist weit über krude Humoristerei hinaus. Es ist ein Gefühl, das in dieser Form nicht Massen zugänglich ist (also nicht für Satire-Shows taugt), sondern etwas sehr Privat- es, das den Lesenden in diese höheren (oder tieferen) Sphären der Komik führt.

Bereits vor zwanzig Jahren hat Genazino in „Achtung Baustelle“ eine Essay-Sammlung veröffentlicht. Dazu verfasste er eine Paderborner-Universitätsrede: „Über das Komische: der aussengeleitete Humor.“ Wir haben es also mit einem ausgekochten Satiriker, Humoristen und Komiker zu tun, der hier alle Register kennt.

Er arbeitete zeitweise als Chef-Redaktor für das Satire-Magazin Titanic. In seinen Essay- bänden „Der gedehnte Blick“ (2007) und „Idyllen in der Halbnatur“ (2012) gibt er einen breiten Einblick in seine theoretischen Überlegungen zu den komischen Aspekten seiner Prosaarbeit und hat eine eigene Romantheorie entwickelt. In den „Bamberger Vorlesungen“ doziert er über Melancholie und spricht von „melancholischer Renitenz“, was wohl auch besagen will, dass die Melancholie ein Grundton seiner Werke ist. Sodann gibt es Studien über das Lachen (mit Erinnerungen an Adorno), die Lächerlichkeit, Humor (er- satzweise Ironie), die Komik. Der Humor schafft Abstand zwischen Ich und Welt. Und er definiert so: „Das Komische ist eine Atmosphäre, in der es sich leichter leben lässt.“ Wortsinn hinterfragen ist eine wichtige Tätigkeit der ich-Erzähler: „Beim Wiedersehen mit meiner ex-Frau fiel mir zum ersten Mal auf, „dass in dem Worte <ehemalig> das Wort <Ehe> aufgehoben ist. Und die Frage: „Kann man eine Frau zum zweiten Mal kennenlernen?“

Situationskomik ist ein wichtiges Element in der genazinoschen Prosa: „Ein älterer Mann verzehrte eine Pizza und hielt die ganze Zeit mit der rechten Hand seinen Stock fest.“ Genazino hat die Tradition des Humors bei Jean Paul, Henri Bergson, Sigmund Freud und Helmuth Plessner studiert und erstellt eine Begriffsklärung für Humor, Komik, Satire und Witz. In seinem ganzen Prosaschaffen werden diese theoretischen Erkenntnisse exemplifiziert. Solche Formulierungen und Pseudodefinitionen gelingen Genazino immer wieder: „Es misslingt uns ohnehin zu viel. Deswegen fliehen wir massenhaft in den Humor. Das Lachen ist der nachträgliche Frieden mit allem Gescheiterten.“ Oder: „Denn jeder Belustigung, ob sie von aussen oder von innen kommt, liegt ein Schmerz zugrunde.“ (Der Professor im Schrank: Adorno und die Verweigerung des Lachens).

2012 erhielt er den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor zugesprochen. Genazinos Werk sei sowohl gesellschaftskritisch und poetisch als auch ein hervorragendes Beispiel literarischer Komik. Da hiess es: Seine Texte „transformieren das Unzulängliche, das Peinliche oder die Langweile subtil zur inneren Erfahrung einer komischen Erfindung.“ Genazinos Erzählende leben in der ihnen eigenen Wahnwelt. Ihrem durch phänomenale phänomenologische Beobachtungsgabe geschulten Blick entgeht nichts. An einigen Stellen wirken sie fast Mr. Beanhaft, an anderen trotzig selbstbewusst, fast überheblich.

Man kommt aber nicht umhin, ihre Schrullen und Denkarbeit sympathisch zu finden, den einen oder anderen Gedanken weiterzudenken oder zu versuchen, ihn aufs eigene Leben anzuwenden. Das Lebenswerk dieses gewieften und humorvollen Autors ist in über vier- zig Jahren entstandenen, es ist ein Glücksfall der deutschen Literatur und ein Experiment, das Seinesgleichen sucht.

Ein Leben basteln aus Trivialitäten

Mit schöner Regelmässigkeit legte Wilhelm Genazino alle zwei Jahre einen neuen Roman vor. Diesmal sagt es der Titel schon, es ist eine Geschichte von Mangelerscheinungen, die drei genannten Dinge kommen aber im Text trotzdem vor. Im weitesten Sinne ist es auch eine Don Juan-Story, wobei alles ja nur imaginiert ist. Der Katalog von ex-Geliebten ist wirklich lang, es werden aber nur wenige etwas detaillierter beschrieben. Genauso gut hätte der Autor diese Stichwörter geben können: Keine feste Beziehung, kein Job, kein Er- folg. Dafür hat der Erzähler noch eine Wohnung, und die Vorstadt-Strassen sind ihm im- mer wieder Zufluchtsort und sein eigentliches Labor für phänomenologische Untersuchungen und Beschreibungen. Er besitzt auch keine präsentable Hose, die ständig getragene ist schon in die Jahre gekommen, die Ersatzhose undiskutabel. Ein Hosenkauf, wie auch schon bei früheren Genazino-Romanen: ein Martyrium, ein Panikkauf oder die Delegation des Kaufvorgangs an eine/n Bekannte/n werden in Betracht gezogen, dann wieder verworfen. Es ist absurd, dass sich der Erzähler ausgerechnet als „Hosenberater“ in oder vor Mode-Geschäften anbieten möchte, um überhaupt eine jobähnliche Beschäftigung sich vorzustellen und auf eventuelle Anfrage nennen zu können. In seinem bisher letzten Roman Kein Geld, keine Uhr, kein Mütze (Hanser München 2018) nennt eine seiner Ehemaligen den Erzähler ein „Auslaufmodell“, was ganz gut beschreibt, was die Partnerinnen an ihm finden mögen: Ein etwas verklemmter oder schüchterner ewiger Junggeselle, der aber eine Ehe mit Sibylle hinter sich hat, sie erneut trifft und mit ihr so halb wieder zusammenkommt, um dann aber erneut zu scheitern. Was finden die Frauen an und bei ihm? Ein grosses Mass an Empathie, Hilfsbereitschaft, Zuwendung und Verständnis dürfen sie bei ihm erwarten.

Auf der anderen Seite hat er dann aber eine fast kühle berechnende, egoistische Art, mit der er Beziehungen, die irgendwie nicht mehr befriedigen, einfach abklemmen kann. Sodann ist da ein voyeuristischer Drang, auch intimste Details zu erzählen und manchmal als Hinweis auf ein mögliches Scheitern von Beziehungen zu verwenden. Schon seit der Abschaffel-Trilogie (1977-79) ist das Geschlechtliche von heiterer Attraktion für die Erzählenden, ein Bereich, wo Glücksgefühle, Verliebtheit und Ekel, Scham und Scheitern sich ablösen. Diese Faszination ist fast durchgehend ein Leitmotiv im genazinoschen Schaffen, wo- bei kaum ein Tabu ausgelassen, realistischer und lebensnaher als bei den meisten Prosa- schriftstellern auch eine Art Hypnose von oder Komplizenschaft mit den Lesenden versucht wird.

„War aus meinem Leben eine lange stumme Elegie geworden?,“ fragt der Narrator.
Nicht so scheint es den Lesenden, eher ist es die Tröstung eines ungebrochenen und ununterbrochenen Selbst-Monologs, ein Räsonnieren über die Dinge und die Geheimnisse des Lebens, ein Selbstbeschwichtig-ungsversuch und ein echtes Interesse an den Vorgängen  in Vorortquartieren und deren öffentlichem Raum. Es entsteht so eine eigentliche kleine Wahnwelt, frei von Zwängen, von Ehrgeiz, festen Bindungen sind die Erzählenden/ Hauptfiguren und oft geschlagen mit zeitweiliger oder gänzlicher Arbeitslosigkeit. Damit können sie sich wichtigeren Dingen zuwenden: den Wetterphänomenen, der Flora und Fauna der Gross- oder Vorstadt, den vielen Frauen, auch Kindern, denen sie begegnen,

den eigenen körperlichen Wehwehchen und Unpässlichkeiten. Dazu kommen noch die alltäglichen Verrichtungen in einer Single-Wohnung und das Konstatieren von deren langsamem Zerfall: ebenso wie die Kleidung rudimentär, nur das Nötigste ist vorhanden. Dabei besteht die Kunst der Reduktion gerade darin, Sinn und Bedeutung oft auch in den unschein-barsten Dingen zu entdecken.

14.12.2018

 


  

Einsamkeit—eines der grossen Uebel unserer Zeit

 

James Joyce hat über dieses Thema sehr Tiefgründiges geschrieben in „The Portrait of the Artist as a Young Man“. Der junge Stephan Dedalus erlebte eine knallharte katholische Erziehung, war auch in einer Jesuitenschule… seine Beschreibungen des Lebens in der Internatsschule sind sehr bewegend. „The Loneliness of the Long-Distance Runner“ hat dieses Lebensgefühl ja schon im Titel, wieder ein schulischer Hintergrund. Ebenso ist es beim „Jungen Törless“.

V.S. Naipaul war als Student in Oxford, Tausende Kilometer entfernt von Trinidad und litt zeitweise sehr unter dieser Situation. Er schrieb seinem Vater: „Oxford bringt alle Eigenheiten von uns zu Tage. Man hat so viel Zeit zur Verfügung, so viel Einsamkeit zu erleiden“.

Camus sagte es so: „Wenn wir allein sind unter einem leeren Himmel, wenn wir also für immer sterben müssen, wie können wir dann wirklich sein?“

Ist die Einsamkeit von Männern anders als die von Frauen? 

Franz Roehler drehte mit Hannelore Elsner Die Unberührbare (2000), ein grossartiges, sehr eindrückliches Portrait einer alternden einsamen Frau. 

In England gibt es seit Anfang 1918 ein „Ministerium für Einsamkeit“ (nicht eher gegen Einsamkeit?), aber ist die politische Ebene die richtige, um das Problem anzugehen? Nach jahrelangen Forschungen wurde klar, dass Hunderttausende betroffen sind, dass neben Alten auch viele Junge darunter leiden. 2016 wurde Jo Cox, eine frühe Mahnerin vor den Gefahren der Einsamkeit, von einem Rechtsextremen erschossen. Daraufhin wurde die Cox-Kommission geschaffen. Man könnte sagen, Theresa May führt ja momentan ihr ganzes Land in Isolation und nun Aussenseitertum, aber sie hat die Gefahr der Vereinzelung des Individuums erkannt und nun eben Tracey Crouch, die Ministerin für Sport, Spielen und Zivilgesellschaft mit dieser zusätzlichen Aufgabe betraut. Damit ist es einfach ein zusätzliches Ressort neben drei anderen. Kritiker meinen, May habe das nur als Publicity-Coup gelandet und ihre Partei betreibe eben gerade einsamkeitsfördernde (Spar) Massnahmen.

Die Zahlen sind frappant:  Einsamkeit sei schädlicher als das Rauchen von 15 Zigaretten pro Tag. In Grossbritannien sind etwa 12% von Einsamkeit betroffen, in USA sogar bis ein Drittel. In Japan ist das Problem auch bekannt, und es gibt für Suizid wegen Alters-Einsamkeit sogar einen Namen: Kodokushi nennt man es da. In der EU sind Single-Personen-Haushalte die am meisten praktizierte Lebensform.

Gründe für Einsamkeit sind bei Jung und Alt verschieden. Das Grundübel ist wohl in hoch entwickelten Ländern im kapitalistischen System zu suchen, wo ein Kampf jeder gegen jeden letztendlich Einsamkeit produziert. Tod von Angehörigen und Scheidung sind traumatische Erfahrungen verbunden mit Vereinsamung, bei Jungen gibt es Einsamkeitsgefühle, die durch das Internet und Mobbing verursacht werden können, die Erosion der Kleinfamilie, bei Aelteren spielen Generationenprobleme und Armut eine wichtige Rolle.

Lösungsansätze sind zu finden bei der Nachbarschaftshilfe, Gemeindearbeit, in Vereinen—und bei uns selbst, die wir uns um Vereinsamte kümmern können.

 25.11.2018

 Lit.: Manfred Spitzer Einsamkeit, die unerkannte Krankheit Droemer 2018/2019


 

Kein Kahlschlag am Uetliberg (TA vom 9.10.2018)

 

Schon vor zehn Jahren und zuletzt 2015 habe ich beim Kreisförster angefragt, ob dieser einzigartige Uetlibergwald nicht besser geschützt werden könne. Als Anwohner/Nachbar verfolge ich jährlich die massiven Eingriffe in die Waldgemeinschaft. Es ist zum Heulen!
Was Lothar 2000 nicht gefällt hat, wird von den Waldnutzern umgehauen und dann liegen gelassen. Jemand behauptete, die Waldnutzung sei defizitär. Wenn das so ist, dann ist das Vorgehen von „Grün Zürich“ höchst fraglich. Gut gibt es den Verein „Pro Uetliberg“, der sich immer wieder um Eingriffe in den „Bergwald“ kümmert.

Diesen Sommer musste man um den Fortbestand vieler Bäume fürchten, einige Tannen sind regelrecht vertrocknet, verloren ihre Nadeln. Beim Spaziergang im Wald bei Temperaturen über 30° war man froh um jeden schattenspendenden Baum. Denkt denn niemand bei den Verantwortlichen an die möglichen Szenarien, die uns bevorstehen könnten? 

Nun aber zur geplanten Gross-Aktion „2100 Bäume weg“. Bei der galoppierenden Klimaerwärmung werden unsere Nachkommen froh sein um jeden Baum, der nicht gefällt wurde. Zürichs grüne Lunge darf nicht so massiv gestutzt werden. Im Bereich, in dem die Aktion stattfinden soll sind bereits in den vergangenen Jahren die Bäche „saniert“ worden. Diese sollen ja für Zürich eine Gefahr darstellen, hat man denn nicht schon dort Vorkehrungen getroffen, um dies zu verhindern? Schon da wurden Bäume abgeholzt. Der Uebereifer der „Grün Zürich“ ist wirklich nicht verständlich. Die ETH hat früher die Waldbewirtschaftung beaufsichtigt. Seit das nicht mehr der Fall ist, wird alles nur noch schlimmer. Ich schlage vor: Für jeden gefällten Baum sollten zwei neue (klimaverträgliche) gesetzt werden.  

Leserbrief TA, 15.10.2018

Politisch gesehen ist es kaum verständlich, dass eine grün-soziale Stadt-regierung ihre Mannschaft „Grün Zürich“ immer wieder über das Ziel hinaus schiessen lässt. Wie ein Mantra wird wiederholt, dass der Uetli ein Schutzwald für Zürich sei. Er selber, seine Fauna und Flora, ist aber auch schutzbedürftig. Was höher zu gewichten sei wurde nicht einmal abgeklärt.

Pikantes Detail: Die zersägten Stämme sollen nach China verkauft werden, das ist doch nicht nachhaltig, sondern unnötiger Transport und Konkurrenz für die Exporte ärmerer Länder. Warum wird das Zeug nicht lokal verwertet, z.B. zu Holzschnitzeln verarbeitet? Sodann wird gejammert über schädliches „Totholz“: warum wird das nicht besser verwertet?

Auf jeden Fall bleiben viel zu viele Fragen unbeantwortet und das Vorgehen der Behörden ist mehr als fraglich.

16.10.2018

 


 

Zampanoo Sadkowsky strikes again/ Tausendsassa Sadkowsky legt nach

 

Es gibt wenige Künstler, die derart absolut ihre Kunst leben, so dass ihr Leben  zum Gesamtkunstwerk wird. Alex Sadkowsky, bald 85, schreibt und malt jeden Tag, hat dieses Jahr eine Novelle (Die Umwandlung) und eine Sammlung Gedichte (Einziger Lockruf) publiziert. Er legt erneut ein wundersames Buch vor oder besser zwei Bücher in einem, von hinten und von vorn zu lesen. Zahlenverdruss führte ihn zur Idee, alle Zahlen umzubenennen. Jede Zuordnung von Buchstaben/ Silben/Wörtern zu Dingen ist bekanntlich letzten Endes willkürlich. Diese Tatsache macht sich der Novellist zu Nutze und kreiert so eine seltsame Novelle— Darstellung einer unerhörten Begebenheit—die des Umbenennens von allen Zahlen. In poetischer Weise werden in diesem Text die Bezeichnungen für Zahlen neu verteilt, durch Namen von Musikinstrumenten ersetzt und mit Elementen einer künstlerischen Weltsicht neu definiert. Seine Gesprächspartnerin ist ein junges Ding, welches noch eine Zahnspange hat, die Idee des Erzählers frisch und munter aufgreift und ihrerseits keck ihre eigenen Zahlennamen erfindet.       Zahlen als kalte Agenten, als Problem, als letztlich anti-human, werden vom Erzähler, der auch ein genialer Saxofon-Spieler ist, als quälend, als menschenverachtend, als kunstfeindlich verstanden. Durch die Poetisierung der Namengebung gelingt es, eine freundlichere, wärmere, kunstfördernde Atmosphäre zu schaffen, ja wir können noch weiter gehen, es ist ein eigentlicher künstlerischer Schöpfungsakt einer Welt, in der Aesthetik, Kunstsinn, Poesie, Musikalität und Malerei an Stelle der Zahlenhuberei, des Zahlenschwindels und Zahlenverdrusses das Leben ausmachen. Es ist auch bei diesem Text wieder die Frage zu stellen, ob dessen Inhalte nicht auch als gemaltes Bild daher kommen könnten. Sadkowsky wäre dies durchaus zuzutrauen, sagen wir auf einem Bild,  das so gross ist wie gewisse iPhone-Werbungen an zu renovierenden Zürcher Gebäuden. Womit wir beim Lokalkolorit sind; es ist in diesem Text—etwas durchsichtig—die nähere Umgebung der Wohnung, in der er in Zürich lebt. Das enzyklopädische Vorgehen ist für den Maestro eine Möglichkeit, Parallelwelten darzustellen oder mindestens auf solche hinzuweisen. Die Umwandlung aller Zahlen in Poesie, die Metaphern-Inflation, meint auch die Umwandlung von Malerei in Prosa oder Poesie und umgekehrt, die Sadkowsky wie kaum einer beherrscht.


Der Erzähler heisst Alex (wie der Autor), ist mit Alexandra verheiratet und hat eine längere Affäre mit einer Kindfrau namens Alexandra. Der Autor, der schon verschiedentlich formuliert hat, dass er sich selbst liebe, lebt das auch als Erzähler vor. Natürlich liebt er auch das Saxophonspiel, seine Texte und Malerei bis zum Exzess.
Die Katalogisierung oder Auflistung von Lebewesen oder Sachen ist eine der sadkowskyschen Methoden der Weltbetrachtung. In seinem malerischen Werk gibt es viele grossformatige Bilder, z.B. mit Hundeporträts, die dann auch ein Politiker-Gesicht haben, Canto I - IV mit Menschenköpfen, Womanslips 1 - 5, und viele andere (www.sadkowsky.ch). Es ist des Meisters Versuch, der Welt so näher zu kommen, sie abbildend zu fixieren, seine eigene Alex-Welt aufzubauen und ein Gesamtkunstwerk von immensem Ausmass zu scha
ffen. Ganz ähnlich in seiner Prosa. Die Idee, in der Umwandlung alle Zahlennamen durch Namen von Musikinstrumenten zu ersetzen, können wir in diesem Sinne sehen. Fast fünfhundert Instrumente und Klangquellen bringen Musikalität in die nüchterne Zahlenwelt. Das ist ja auch die Aufgabe der Künste in unserm Alltag. Wenn man diese Prämisse annimmt, dann spricht der Text an, und wir können uns auf das experimentelle Universum von Sadkowskys Sprachspielereien, Wortneuschöpfungen, Gesellschaftskritik, Darstellungen von künstlerischer Befindlichkeit, Ironisierungen und Verspottungen einlassen. Das Durchbeten der Zahlenreihe von eins bis eine Trillion ist in seiner Breite masslos, phantastisch, natürlich auch absurd. Wie aber können die Lesenden so etwas nachvollziehen? Dies gelingt nur, wenn sie sich auf die grosse Erzählkunst Sadkowskys einlassen: Witz, Ironie, Einfallsreichtum, Variationsfülle, eine Prise Autobiografie, Nostalgie, genaue Beobachtung, Spiel mit Tabus und vielleicht am wichtigsten: die meisterhafte Vermeidung von Monotonie durch sprudelnde Fantasie und Fabulierkunst. Es ist auch die synaesthetisch-osmotische Wechselbeziehung zwischen Mal- und Erzählwerk, welche die Novelle zum Lesegenuss macht.

 

24.9.2018

 


 

Flüchtlinge

 

Wer noch ein menschliches Herz in sich ticken hat, dem kann es nicht gleichgültig sein, was auf der Welt passiert. Das Schicksal auf der Flucht zu sein ist für alle Betroffenen gleich schlimm, die Aufnahme oder das Weggewiesen werden in einem neuen möglichen Lebensraum aber sicher sehr verschieden.

Unser Land hat in einem ungünstigen Moment des politischen Meinungsbildungsprozesses vorschnell und egoistisch die Zuwanderungsbegrenzungsinitiative angenommen (Uns geht es gut, wenn da andere kommen, ändert sich das vielleicht). Heute wo täglich in Europa Hunderte oder Tausende Zuflucht suchen wird nun den meisten klar, dass Mauern, Zäune oder Volksinitiativen nicht die richtigen Wege sein können, um das Problem zu lösen.

Die EU hat lange diskutiert, Quoten für die Zuwanderung festgelegt und festgestellt, dass es auch so nicht geht, weil sich einige (oder die meisten?) Länder nicht daran halten wollen.
Schon in den neunziger Jahren gab es eine Bewegung, die Flüchtlingen (illegal) Asyl gewährte. Mir ist jemand bekannt, der einen jungen Kurden und eine libanesische Familie für eine kurze Zeit bei sich aufnahm. Man musste sich verpflichten, im Krankheitsfall für mehr als zwanzigtausend Franken Pflegekosten aufzukommen, das schreckte viele ab. Heute gibt es wieder Leute, die privat Flüchtlinge aufnehmen möchten. Die Schwierigkeiten bleiben die gleichen.

In der Zeit vor den Wahlen hatten die Schweizer Parteien natürlich ganz verschiedene Ideen, wie das unbequeme Thema zu umgehen oder zu verschleiern sei. Die bürgerlichen Parteien sind plötzlich eines ihrer „heissen“ Wahlkampfthemen beraubt und beharren auf ihrem Mauerdenken, reden weiter vom vollen Boot, aber auch diese Metapher ist ins Schlingern geraten, da wir dafür nunmehr ein reales Bild vor Augen haben, die Not Leidenden das Mittelmeer in untauglichen Booten das Mittelmeer überqueren und entweder ertrinken oder auf Lampedusa oder Lesbos stranden sehen.

Es gibt weltweit und in Europa so viele Flüchtlinge wie nie zuvor. Ein Aspekt wird in der Diskussion oft verschwiegen: Flüchtlinge sind nicht nur für Schlepper ein Geschäft. Auch andere haben gemerkt, dass sich mit Flüchtenden Geschäfte machen lassen. Und sie tun dies kalt, herzlos, kapitalistisch. Unser Land kauft Dienstleistungen in Millionenhöhe ein, die Operierenden schneiden sich ein dickes Stück davon ab und profitieren auf Kosten von Geschundenen, Entwurzelten, Verzweifelten.

Die Tagespauschale pro Flüchtling beträgt CHF 14.— Damit kann er/sie sich ein billiges Mittagsmenu, ein T-Shirt oder drei Getränke kaufen.
Die Schweiz wurde bisher noch nicht von Flüchtlingsströmen überrannt, das könnte sich aber ändern. Mit stark bürgerlich dominierten Räten ist die Prognose für die so genannte humane Schweiz ungünstig. Parteien, die sich im Wahlkampf mit markigen Sprüchen zum Zuwanderungsstopp vernehmen liessen, haben selbstverständlich keine Vision, wie mit dem Problem umzugehen sei, ausser die Grenzen notfalls durch die Armee zu schützen, was bereits einmal durchgeplant wurde, aber zeigte, dass auch dieses Mittel wohl untauglich sein würde.

Eines ist sicher, weder Deutschland, noch die EU und auch nicht die kleine Schweiz können alle Fliehenden aufnehmen.
Die „Balkanroute“ endet jetzt vorerst mal in Ungarn, das zuerst den „schwarzen Peter“ über Oesterreich nach Deutschland abschieben liess und dann die Grenzen nach Süden mit einem Zaun abschloss. Es ist noch keine Generation her, da war Ungarn selber durch den Eisernen Vorhang von Europa abgeschnitten. Vor kurzem hat das Land beschlossen, Flüchtlingen keine Nahrungsmittel mehr abzugeben. Die Schweiz hat 1958 200’000 ungarischen Flüchtlinge aufgenommen, zehn Jahre später ebenso 13’000 Flüchtlinge aus Tschechien. Beide Gruppen integrierten sich problemlos in der Schweiz. Heute aber zaudert dieses Land weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Die heutige ungarische Flüchtlingspolitik ist vor diesem Hintergrund beschämend.

 

24.9.2018

 


 

Der grosse Camus

 

 

Ach so, l’Etranger und La peste, ja haben wir in der Schule gelesen. Nun denn, auch diese beiden Romane sind Camus-Meisterwerke. Dann gibt es da noch im öffentlichen Bewusstsein Les Justes und Le premier homme, sein letzter Roman (Fragment). Seine poetische Kurzprosa Noces und l’été gehören zum Besten, was er geschrieben hat.

Die philosophischen Texte L’homme révolté und Le mythe de Sisyphe sind dann aber doch weniger bekannt. Aber gerade hier leistet Camus Unglaubliches: Seine Gedanken über die Absurdität jeglichen Lebens gipfeln z.B, in der doch etwas wagemutigen Behauptung: „Das einzige philosophische Problem, über das es sich lohnt nachzudenken ist der Suizid.“ Dies tut er dann auch immer wieder in L’homme révolté.

Hier finden wir eine eigentliche Geschichte der Revolte und psychologische, ethische und philosophische Fragen dazu. Die Beweggründe von Menschen, die sich auflehnen werden genau analysiert, wobei immer auch etwas Sympathie für diese mutigen, echt aufgebrachten sich mit Todesverachtung auch selber opfernden Menschen durchscheint. Die Revolte im 19. Jahrhundert in Europa ist dann doch ein überwältigendes Thema. Camus hat mit grosser Genauigkeit von Aufständen vor allem in Russland berichtet, ohne die man nicht verstehen kann, wie Lenin seinen Umsturz plante und durchführte.

Wenn schon alles absurd ist, dann ist doch ein Suizid in der Folge eines Attentats kein Schreckgespenst, sondern eine ehrliche Möglichkeit, aus einer ausweglosen Situation zu entkommen. Camus’ Sympathie gehört den Erfolglosen, Gescheiterten, Unterdrückten und Religionslosen. Die Religion, egal welcher Ausprägung, verspricht Entschädigung für die Mühsal auf Erden im Jenseits, was nur ein Mittel der Unterdrückung, Verdummung und Irreführung für viele Leute war. Heute ist das Thema Terrorismus in aller Munde. Das Unverständnis ist gross, die Erklärung, dass ein Terrorist seine Belohnung im Jenseits erhalten werde, ist absurd. Bei Camus können wir zu diesem aktuellen Thema Einiges lesen.

Camus zitiert immer wieder Nietzsche, meint, er sei ein Paradebeispiel für einen absurden Schriftsteller, der sein Leben voll lebte und kaum Zeit darauf verwendete, an ein Leben im Jenseits nachzudenken. Auch Kierkegaard ist ein wichtiger Vorläufer, dessen Leben und Werk absurde Züge trägt. Dostoievski ist ein weiterer Meister, der die Absurdität der menschlichen Existenz immer wieder thematisiert hat. Interessanterweise zählt Camus Kafka nicht zu den absurden Autoren, da er eben die Hoffnung nicht aufgebe, im Prozess Gerechtigkeit zu finden und im Schloss göttliche Gnade.

Die Absurdität wird immer wieder definiert. In einem grösseren Kontext geht es um die Sinnfrage des Lebens. Wo kein Sinn mehr ersichtlich ist, kann ein mögliches Ende selbst herbeigeführt werden. Wer das aber nicht will oder noch nicht kann, lebt ein doppelt absurdes Leben. Da er aber illusions- und furchtlos existiert, kann er sich an die diesseitigen Freuden des Lebens klammern, und zwar ohne Schuldgefühle oder Rücksicht auf andere. „Cette épaisseur et cette étrangeté du monde, c’est l’absurde.“ Oder „L’absurde, c’est le péché sans Dieu.“

„Der Körper, die Zärtlichkeit, die Kreativität, die Tat, die menschliche Noblesse werden in einem absurden Kontext ihren Platz einnehmen. Dort findet der Mensch endlich den Wein des Absurden und das Brot der Gleichgültigkeit, woraus er seine Grösse nährt.“
Der absurde Mensch (Camus gibt dafür als Beispiel die Don Juan-Legende) verausgabt sich völlig und erschöpft alle Mittel in einer extremen einsamen Anspannung. Sein Leben, seine Auflehnung (gegen die Mächtigen), seine Freiheit spüren heisst so intensiv wie möglich leben.

Der Sisyphus-Mythos erlebt bei Camus eine Neu-Interpretation und es heisst da: „Wir müssen uns Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen.“ In seiner Opposition zu den Göttern ist er frei, seine Arbeit nicht nur als Strafe, sondern auch als Lebensinhalt und Sinn zu sehen, was im metaphysischen Bereich ja eben nicht vorhanden ist.

 

3.6.2018

 


 

Die eventuelle Planbarkeit des Glücks
Markus Bundi Planglück Kloepfer und Meyer Tübingen 2017

Der Mensch plant und das Schicksal lenkt. Der schopenhauersche Gedanke, dass das Glück eine Weltmacht sei, und am meisten vermöge ist an sich schon bedenkenswert, aber planbar ist die Chose letzten Endes halt doch nicht. Bundis Kurzprosa besticht durch seine Bearbeitung von aktuellen und ewig gültigen Themen. Seine humorvollen, stark verdichteten, satirischen, skeptischen und oft parabelhaften Texte sind ein wahrer Lesegenuss.
Die Titelgeschichte beschreibt eine Männerfreundschaft, wie dies ebenso in anderen Texten zum Thema wird. Don Francesco (wohl ein Uebername für Franz) ist phänomenal reich, Neurochirurg, ein besessener Selbstoptimierer und geht auf sein Lebensende zu. Er bittet dann den Erzähler für ihn etwas Glück zu planen und überweist ihm im Voraus Hunderttausend, was jener auch als Spass oder Veräppelung verstehen könnte. Erzähler und Glücksbesteller Francesco hatten schon immer ein freundschaftliches, wohl auch wettbewerbsorientiertes Verhältnis seit ihrer Maturazeit und neckten einander wo es nur ging. 
„Es gibt kein Rezept für das persönliche Glück“, „Leben ist nur eine Leihgabe“, „Ohne die anderen bleibt das Glück unauffindbar“ sind wertvolle Hinweise für Glück Planende.
Für das bereits bezahlte Geld schreibt der Erzähler dem Glückssuchenden einen Brief, den er an mehreren Tagen entwirft und versucht trotzdem, etwas Glück zu planen, denkt an Klonung, Kryonik, Kopfverpflanzung in frankensteinscher Manier, oder dann die Planung des Glücks für kommende Generationen, indem nur noch Zwillinge auf die Welt kommen sollen. Diese würden dann übermenschlich viel arbeiten, den einen oder anderen Coup landen, sich sogar in der Ehe zu viert vertreten können und so weiter… Zu guter Letzt, wohl wissend, dass alle gut gemeinten Vorschläge doch nichts nützen werden, schlägt der Erzähler dem Lebensmüden ein Treffen vor; wie gewohnt könnten sie dann einen Streit vom Zaun reissen, sich in die Augen schauen und vielleicht in ein Gelächter ausbrechen—und das wäre doch bereits viel Glück. 
Im zweiten Text wird schon das Thema des trügerischen Glücksversprechens durch Reichtum behandelt, ein Student erbt von seinem Grossvater als Alleinerbe ein Vermögen. Urban Quantlinger war Erfinder eines Heilmittels namens „Aequinocticum“, das sich aber als Placebo herausstellte. Als Wiederhersteller des Gleichgewichts für die Opfer der allgemeinen Beschleunigung des Lebens, sollte es Tag- und Nachtgleiche wieder herstellen, die Jahreszeiten wieder ins Lot bringen. Uebrigens spielt das Ganze in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts,    ist Utopie und der Enkel versucht durch „Quantelung“ noch viel mehr: „unseren Planeten wieder in die ursprüngliche Umlaufbahn zu bringen“. 
In „Operation Sherwood“ schreibt ein Pennäler einen „verstörenden Aufsatz“ zum Thema Altruismus. Auch da ist wieder ein Glücksritter am Werk, der Erzähler erbt von seinem Grossvater eine riesige Briefmarkensammlung und andere Kollektionen. Freund Jeremy aber macht Karriere, arbeitet für eine internationale Consulting-Firma und ist beteiligt an der Sprengung der trumpschen Mexiko-Mauern und anderer Mauersysteme in Europa, in der Westsahara (warum nicht in Israel?). Als moderner Robin Hood—eben Altruist—setzte er sich für die Armen ein und erfüllt das gestellte Thema sowohl im Aufsatz als auch in der Realität. Witzig: die Kommentare und Randnotizen von Lehrer Bingesser dazu. 
Das Thema des (erhofften) Reichtums taucht nochmals in der Geschichte „Die Lücke“ auf. Ein Schankwirt (Albert) führt sein Lokal auf besondere Weise, hat aber schon 2000 das Gefühl, aus dem erwarteten Datenchaos auf den Computern Kapital schlagen zu können, was aber misslingt. Kein Chaos, kein Geschäft. Später verschwindet er mit drei von seinen Stammgästen nach Uebersee und soll in New York wieder eine Kneipe  eröffnet haben. Sein finanzieller Erfolg stammt aus Verkäufen von on-line Daten, ausser der Ortsveränderung verändert sich hingegen gar nichts.
In kürzeren Texten porträtiert Bundi Berufsleute, einen Postbeamten, einen Kehrichtsammler, einen Hochdruckreiniger, die Arbeitswelt scheint auf den Autor eine gewisse Faszination auszuüben. Dann aber doch auch wieder nicht—die Pensionierung als Zustand eines kleinen Glücks dann jedoch umso mehr. Ueber meine Lieblingsgeschichte („Eiszeit“) sage ich nichts, ausser dass hier erzählerische Meisterschaft sichtbar wird.

27.5.2018

 


 

 

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